Ob in der Bahn, im Café oder ganz gemütlich auf der Couch – Bücher kann man wirklich überall lesen. Und gute Bücher legt man auch nicht so schnell wieder aus der Hand. So kann die Faszination Lesen zugleich ein wunderbarer Selbstläufer werden, um Englisch zu lernen oder vertiefen – auch das ist kein Geheimnis. Daher möchten wir euch heute ein englisches Buch vorstellen, das wir mit Freude gelesen haben. Hoffentlich können wir auch eure Leselust wecken…
Das Konstrukt Nationalität
Bei dem Roman handelt es sich um das Werk „The English Patient“ von Michael Ondaatje. Der Autor weist eine äußerst interessante Vita auf. Ursprünglich in Sri Lanka geboren, emigrierte Ondaatje im Jugendalter nach England. Jedoch zog es ihn als jungen Erwachsenen weiter nach Kanada, wo er seitdem lebt und auch die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Wie viel oder wenig eine Nationalität an Persönlichkeit konstruieren kann, weist Ondaatje auch scharfsinnig in „The English Patient“ auf. Denn bei dem Protagonisten handelt es sich um einen verwundeten Mann, der sich nicht mehr seiner Identität, geschweige denn seiner Nationalität zu erinnern vermag. Nur seines britisch klingenden Akzentes wegen wird er der englische Patient genannt.
Opfer des Krieges
Die Geschichte spielt in der italienischen Toskana zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Italienfeldzug der Alliierten ist auf dem Vormarsch und hinterlässt Verwundete und zerbombte Städte ohne Zahl. Die Krankenschwester Hana pflegt die Invaliden Tag und Nacht nach Leibeskräften und bis zur Erschöpfung. Als sie den englischen Patienten in ihre Obhut nimmt, entscheidet sie, dem Zug nicht mehr zu folgen, sondern mit ihrem Patienten in einem zerstörten Kloster zu bleiben. Dort pflegt sie mit Hingabe die Wunden des bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Opfers. Zwischen Delirium, in dem der englische Patient um sein Leben ringt, und Phasen der Besserung, in denen Hana ihm aus seiner personalisierten Ausgabe des „Herodot“ vorliest, kehren zunehmend mehr Erinnerungen an sein Leben vor seinem Unfall zurück. Peu à peu erfährt Hana und mit ihr der Leser über des Patienten wahre Identität.
Von Vergessen und Erinnern
Verwoben wird die Geschichte des Brandopfers mit den Schicksalen Hanas und zweier weiterer Männer, die zur gleichen Zeit in dem ehemaligen Kloster Obdach suchen. Caravaggio ist ein ehemaliger Spion des britischen Geheimdiensts und Kip war als Bombenentschärfer im Krieg tätig. Auch sie hat der Krieg gebrandmarkt, sei es durch körperliche Verstümmelungen oder psychische Traumata. Während das Quartett in der italienischen Villa wohnt, durchlebt es eine Aufarbeitung des Erlebten und zugleich den Versuch, dem Kriegsalltags zu entfliehen und neu anzufangen.
Fazit
„The English Patient“ ist definitiv keine verstaubte Kriegs-Chronik, sondern ein ergreifendes Plädoyer gegen Krieg. Mit dem Erzähler tauchen wir in eine Welt ein, in der monumentale Zerstörung ein Sinnbild der inneren, der emotionalen und psychischen Verwüstung der Kriegsopfer darstellt. Eine Welt, in der von der Vergangenheit nicht mehr als ein blasser Erinnerungsschimmer bleibt. Und in der Krieg alle gleichsam zu Verwundeten macht – ungeachtet ihrer früheren Identität. Dabei schafft es Ondaatje, eine Schnittstelle zwischen nüchternem Erzählstil und sprachlicher Poesie zu schaffen, die den Leser ab der ersten Seite mitnimmt. Das taktvolle Changieren zwischen verträumten Erzählungen der Vergangenheit und bitterer Kriegsrealität, entfesselt Neugierde und Spannung sondergleichen. Ist erst einmal das komplexe Netz an Personen und Geschehnissen entsponnen, können wir nicht anders, als uns voller Mitgefühl und Faszination ihren Schicksalen zu widmen. Die Lektüre von „The English Patient“ ist bereits Jugendlichen zuzutrauen und für Erwachsene schwer zu empfehlen. Zwar existiert ebenso eine Filmadaption, jedoch sollte diese erst nach der Buchlektüre rezipiert werden. Denn nur Ondaatjes sprachgewaltiges Konstrukt vermag es, die Phantasie seiner Leserschaft derart zu beflügeln und zu ernüchtern zugleich.
Titel | The English Patient |
Autor | Michael Ondaatje |
Erscheinungsjahr | 1992 |
Auszeichnungen | Man Booker Prize; |
Governor General's Award for English-language fiction | |
Altersempfehlung | ab 16 |